Das Leben gilt, in Adornos Worten, seit unvordenklichen Zeiten als der eigentliche Bereich der Philosophie, deren unentwegte Frage die nach dem richtigen und guten Leben ist. Seit wenig mehr als einem Jahrhundert ist das Leben aber auch zu einem wichtigen Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften geworden, und zwar sowohl unter biografischen wie unter biologischen Gesichtspunkten. Auf der Grundlage seiner Forschungen, die er in den vergangenen zwei Jahrzehnten auf drei Kontinenten durchgeführt hat, regt Didier Fassin einen kritischen Dialog zwischen Philosophie und Sozialforschung an. Zur Debatte stehen drei Konzepte, welche die Ungleichheit von Leben erklären: Unter dem Titel »Formen des Lebens« untersucht er die widersprüchlichen Interpretationen von Ludwig Wittgensteins kaum bestimmtem Begriff des Lebens vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen spezifischen Existenzweisen und geteilter conditio humana. Unter der Überschrift »Ethik des Lebens« beschäftigt er sich mit Walter Benjamins Idee der Heiligkeit des Lebens als höchstem Gut, indem er sie konfrontiert mit den Ungleichheiten und Verschiedenheiten, die den faktischen Wert menschlicher Leben bestimmen. Unter dem Stichwort »Politik des Lebens« erkundet Didier Fassin die blinden Flecke in Michel Foucaults Konzept der Biopolitik, indem er die Materie und die Bedeutung von Lebensweisen jenseits der Technologien, die sie beherrschen, in die Diskussion zurückholt. Diese Diskussion, die quer durch die Disziplinen führt, nährt sich von ethnografischen Fallstudien, die zeigen, wie Leben in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten unterschiedlich betrachtet und erfahren wird. Sie lädt überdies dazu ein, im Gespräch mit Literatur darüber nachzudenken, was es bedeutet, über das Leben und Formen des menschlichen Lebens zu schreiben. Am Ende sind die Vorlesungen ein Versuch, sich aus der Perspektive einer kritischen Ethnologie mit der Frage nach dem Leben in gegenwärtigen Gesellschaften zu befassen.
Didier Fassin ist James D. Wolfensohn Professor für Sozialwissenschaft am Institute for Advanced Study in Princeton und Studiendirektor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Als Ethnologe, Soziologe und Mediziner war Didier Fassin Gründungsdirektor des Interdisziplinären Forschungsinstituts für Sozialwissenschaften (IRIS) am französischen Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Zurzeit ist er zudem Gastprofessor an der Princeton University sowie Honorarprofessor an der Universität von Hongkong. Sein Hauptforschungsgebiet ist die politische und moralische Ethnologie. Dabei hat er insbesondere über Formen von Ungleichheit und Ungerechtigkeit in Frankreich, im subsaharischen Afrika und in Lateinamerika gearbeitet. Ausgezeichnet mit einem Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) hat Didier Fassin kürzlich eine ethnografische
Studie über den Staat, die Polizei, die Justiz und das Gefängnis durchgeführt. Er war Vizepräsident von Ärzte ohne Grenzen und ist gegenwärtig Präsident des französischen Comité Médical pour les Exilés (COMEDE). In diesem Frühjahr wurde ihm die Goldene Medaille der Schwedischen Gesellschaft für Anthropologie und Geografie verliehen.
Die Vorlesungen finden in englischer Sprache statt.
Die Frankfurter Adorno-Vorlesungen
Seit 2002 veranstaltet das Institut für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag jährlich Vorlesungen, die an drei Abenden an Theodor W. Adorno erinnern sollen. Dabei geht es nicht um eine philologische Ausdeutung seines Werks, sondern darum, seinen Einfluss auf die heutige Theoriebildung in den Humanwissenschaften zu fördern und die lebendigen Spuren seines interdisziplinären Wirkens in den fortgeschrittenen Strömungen der Philosophie, der Literatur-, Kunst- und Sozialwissenschaften sichtbar zu machen.