Die Forschung über Gewerkschaften
Die Forschung über die Gewerkschaften währte nicht nur anderthalb Jahrzehnte mit immer wieder neuen Fragestellungen. Sie brachte auch insbesondere mit den beiden Büchern des Autorentrios Bergmann/Jacobi/Müller-Jentsch Publikationen[2] hervor, an denen in den 1970er Jahren kein Weg vorbei führte, wenn man sich mit einigem theoretischen und empirischen Anspruch oder auch aus politischen Gründen mit den westdeutschen Gewerkschaften beschäftigte. Sie können als Grundlegungen der Disziplin der „Industriellen Beziehungen“ betrachtet werden, die insbesondere Walther Müller-Jentsch als Nestor der Forschung über Industrielle Beziehungen etablierte, der die Schriftenreihe „Industrielle Beziehungen“ und die gleichnamige Fachzeitschrift ins Leben rief. Müller-Jentsch erhielt nach seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am IfS 1982 eine Professur an der Universität Paderborn und hatte dann von 1992-2001 den Lehrstuhl für Organisation und Mitbestimmung an der Ruhr-Universität Bochum inne. Joachim Bergmann war von 1965 bis 1972/73 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am IfS und wechselte anschließend auf eine Professur für Soziologie an der TH (heute TU) Darmstadt, wo er sich unter anderem den Themen industrieller Rationalisierung und japanischer Betriebsgewerkschaften widmete. Otto Jacobi war bis 1990 am IfS tätig und blieb der Forschung über und mit Gewerkschaften auch später in verschiedenen Funktionen am Europäischen Gewerkschaftsinstitut (heute ETUI) in Brüssel, an der Europäischen Akademie der Arbeit in Frankfurt a.M. und an der Cornell University in den USA verbunden.
Am Institut wurde noch eine Vielzahl weiterer Studien zu Tarifrunden in verschiedenen Branchen, zur Arbeitszeitpolitik und zum Korporatismus in den industriellen Beziehungen durchgeführt. An der Gewerkschaftsforschung waren bis in die 1980er Jahre außer den Genannten Ulrich Billerbeck, Gerhardt Brandt, Christoph Deutschmann, Richard Herding, Berndt Kirchlechner, Rudi Schmiede, Edwin Schudlich, Eckart Teschner sowie an späteren international ausgerichteten Studien Hans Kastendiek (über britische) und Rainer Erd (über US-amerikanische Gewerkschaften) beteiligt.
Empirische Basis der beiden Untersuchungen waren 76 Expert*inneninterviews und 601 Interviews mit haupt- und ehrenamtlichen Funktionär*innen der Gewerkschaften sowie die langjährige Beobachtung gewerkschaftlicher Tarif- und Betriebspolitik sowie von Streiks.
Historischer Kontexte und Befunde
Konzertierte Aktion und „wilde“ Streiks
Seit Ende der 1960er Jahre und verstärkt mit der Regierungsübernahme der sozialliberalen Koalition im Jahre 1969 etablierte sich eine staatlich vermittelte, keynesianistisch inspirierte Einkommenspolitik, die auch in der „Konzertierten Aktion“, einer tripartistischen Abstimmungsrunde von Staat, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, institutionalisiert wurde und von dem neu eingerichteten „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ mit Gutachten, Daten und Prognosen munitioniert wurde. Auf diese Weise geriet vor allem die gewerkschaftliche Lohnpolitik verstärkt unter öffentlichen Legitimationsdruck. Das war der Kontext, in dem die Untersuchungen durchgeführt wurden. Die Haltung zu dieser Entwicklung war in den Gewerkschaften sehr umstritten und in den „wilden“, nicht gewerkschaftlich organisierten, „Septemberstreiks“ des Jahres 1969 hatte sich die „Basis“ eindrucksvoll zu Wort gemeldet. Dies wurde als praktische Kritik an der gewerkschaftsoffiziellen Politik interpretiert. Vor diesem Hintergrund hatte die Gewerkschaftsforschung des IfS von vornherein einen (gewerkschafts‑)politischen und tendenziell auch einen gewerkschaftskritischen Charakter.
Gewerkschaften als intermediäre Organisationen
Die Gewerkschaften hatten sich in den vergangenen Jahren in starkem Maße professionalisiert, ihre Politik zentralisiert und der Gewerkschaftsapparat hatte, auch weil die Gewerkschaften als Branchengewerkschaften verallgemeinerte, nicht nur berufsspezifische Interessen zu vertreten hatten, eine Eigenständigkeit gegenüber der Mitgliederbasis entwickelt, die ihnen auch erst eine Beteiligung an der institutionalisierten Einkommenspolitik ermöglichte. Diese Positionierung der Gewerkschaften im Kapitalismus der 1970er und 1980er Jahre fassten die Forscher (es waren ausschließlich Männer) in der Formel der „intermediären Organisation“ zusammen, die zwischen Mitgliederinteressen und Systemzwängen vermitteln muss. Diese „intermediäre“ Funktion begründete ein Dilemma: Als demokratisch verfasste Mitgliederorganisation hatten sie die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Weil sie zugleich die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen und Voraussetzungen ihrer Politik in Rechnung stellen mussten und in dieser Hinsicht unter politischem und öffentlichem Druck standen, hatten sie die Logik und Zwänge des ökonomischen Systems zu berücksichtigen. Um als Verhandlungspartner der Arbeitgeber, aber auch in der staatlichen Einkommenspolitik ernst genommen zu werden, mussten sie jedenfalls potenziell wiederum bereit und in der Lage sein, ihre Mitglieder zu mobilisieren und zu motivieren. Dieses Dilemma der „intermediären Organisation“ konnte von den Gewerkschaften unterschiedlich bearbeitet werden. Die Gewerkschaftsforscher unterschieden idealtypisch den konfliktorischen und den kooperativen Politiktypus. Kooperative Gewerkschaften passten ihre Politik in hohem Maße den Systemzwängen und der staatlichen Wirtschaftspolitik an, während konfliktorische die Mitgliederinteressen unmittelbarer in tarifpolitische Forderungen umsetzten und ihre Stärke durch die Mobilisierungsfähigkeit der Mitglieder gewinnen wollten. Gingen die Forscher in der ersten Phase der Untersuchungen davon aus, dass mit den zurückgehenden Wachstumsraten der Wirtschaft und der deutlicher werdenden Krisenhaftigkeit des Kapitalismus die konfliktorische Politik an Bedeutung gewinnen würde, so mussten sie in der zweiten Phase erkennen, dass unter diesen Bedingungen im Gegenteil die kooperative Politik an Bedeutung gewann. Diese eher ernüchternden Erkenntnisse wurden in der Studie mit dem Titel „Anpassung an die Krise“[3] dargestellt.
Betriebsräte in Großunternehmen und gewerkschaftliche Vertrauensleute
In den Studien wurde auch der zunehmende Einfluss der Betriebsräte insbesondere in den Großunternehmen thematisiert. Er resultierte aus dem Bedeutungsgewinn der betriebsinternen Arbeitsmärkte, aus der Erweiterung der betriebsverfassungsrechtlichen Rechte mit der sozialliberalen Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 und den Spielräumen einer betrieblichen, übertariflichen Lohnpolitik. Da die Betriebsräte von allen Belegschaftsangehörigen gewählt werden und somit prinzipiell unabhängig von den Gewerkschaften sind, wurde von den Gewerkschaften hierin die Gefahr einer Verselbstständigung gesehen. Allerdings – auch hier zeigte sich wieder ein Dilemma – waren die Gewerkschaften von den Betriebsräten abhängig, die in der Organisation eine einflussreiche Rolle spielten und wesentliche Vermittlungsorgane zu den Gewerkschaftsmitgliedern waren. Einige Gewerkschaften bemühten sich deshalb darum, die Vertrauensleute aufzuwerten, die in den Betrieben nur von den Gewerkschaftsmitgliedern gewählt werden und die wesentlichen Aktivist*innen der Gewerkschaften neben den gewerkschaftlich organisierten Betriebsratsmitgliedern waren.
Gewerkschaftliche Bildungsarbeit, gewerkschaftliche Kontakte und Konflikte
Die politischen Sympathien der Forscher galten den konfliktorischen Tendenzen in den Gewerkschaften. Mit ihrer Forschung wollten sie auch die Stärkung der gewerkschaftlichen Vertrauensleute unterstützen. Sie gingen mit einer in der gerade erst vergangenen Studentenbewegung erworbenen, von der Kritischen Theorie, mehr noch vom Marxismus geprägten Einstellung und großen Erwartungen an die Entwicklung des Klassenkampfes an die Forschung heran.
Gewerkschaftlicher Hintergrund der Forscher*innen
Es gehörte zu den Merkmalen der damaligen kritischen Industriesoziologie, dass ein großer Teil der Forscher*innen selbst Erfahrungen mit gewerkschaftlicher Politik gemacht hatte. Teilweise waren sie über den zweiten Bildungsweg gekommen, hatten sich in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit engagiert und die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit und die Emanzipation der Arbeiterklasse stellten für sie einen wesentlichen Bezug einer kritischen Wissenschaft und Theorie dar. Ihre Forschung sollte einen Beitrag zur Aufklärung über Möglichkeiten und Grenzen einer konfliktorientierten Interessenvertretung leisten. Die damalige industriesoziologische Forschung (nicht nur) am Institut für Sozialforschung ist ohne diese Einbettung nicht zu verstehen.
Über diese Zusammenhänge der industrie- und gewerkschaftssoziologischen Forschung am IfS habe ich mit Otto Jacobi, einem der Hauptbeteiligten an den Gewerkschaftsstudien, und mit Karin Benz-Overhage gesprochen, in deren Berufsweg diese Verbindung von Gewerkschaft und Wissenschaft am IfS persönlich besonders deutlich wird. 1959 hatte Benz-Overhage ihre Ausbildung zur Chemielaborantin begonnen und engagierte sich als Jugendvertreterin in der IG Chemie, Papier, Keramik. Im Anschluss studierte sie an der Akademie der Arbeit in Frankfurt a.M. und wurde dann Gewerkschaftssekretärin in der Bildungsabteilung der IG Metall. Ab 1970 studierte sie erst berufsbegleitend und dann – von der IG Metall beurlaubt – in Vollzeit Soziologie, Volkswirtschaft, Politikwissenschaft und Arbeitsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt. Von 1976-1982 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am IfS in einem Projekt über Automatisierungsprozesse in der Industrie.[4] 1982 wurde sie promoviert. Danach wechselte sie wieder zur IG Metall und leitete dort Projekte zur Automation und Humanisierung der Arbeit. Im Jahre 1986 wurde sie zum Geschäftsführenden Vorstandsmitglied der IG Metall für den Bereich Betriebsräte und Betriebspolitik gewählt. Dies blieb sie bis zum Renteneintritt im Jahre 2003.
In ihrer Zeit in der Bildungsabteilung der IG Metall (1964-1972) war Karin Benz-Overhage für die Entwicklung von Jugendbildungskonzepten und u.a. für die Jugendbildungsarbeit in Bildungsheimen zuständig. In dieser Zeit hat sie spätere Industriesoziologen am IfS und an anderen Orten, z.B. Eckart Teschner und Michael Schumann (später Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts (SOFI) in Göttingen) kennengelernt, die sich damals in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit engagierten und am IfS als Wissenschaftler oder Studierende tätig waren. „Alles, was hier so um das Institut herum war, war auch bei der IG Metall, jobbte da in der Bildungsabteilung. Das war also ein ziemlich enger Austausch. Der Mentor dafür war Hans Matthöfer[5], der die Kontakte gehalten hat.“ Karin Benz-Overhage selbst hat insbesondere das Konzept der „Bildungsobleute“ vorangetrieben. „Das knüpfte auch an das Konzept ‚Stärkung der Vertrauensleute‘ an: Wie können wir das abstützen durch eine betriebsnahe Bildungsarbeit? Also möglichst handelnde Kollektive auch gemeinsam qualifizieren. Wir hatten dann einen Kreis befreundeter Wissenschaftler, die zum Teil auch Bildungsobleute-Arbeit gemacht haben in den Lehrgängen.“ Doch: „Die Bildungsarbeit wurde relativ schnell von der IG Metall-Führung als zu kritisch erkannt und hat dann auch zu handfesten Konflikten geführt, wobei ich sagen muss, dass Otto Brenner (Vorsitzender der IG Metall von 1952 – 1972) da – zwar nicht allzu öffentlich und breit – aber letztlich hat er seine schützenden Hände da rüber gehalten.“ Nach dem Tode Otto Brenners wurde diese Bildungsarbeit unter dem neuen Vorsitzenden Eugen Loderer „im Grunde abgebrochen“.
Dieses linke gewerkschaftsnahe Milieu zwischen Wissenschaft und Gewerkschaft war also gewissermaßen die Infrastruktur, die in der Gewerkschaft über die Bildungsarbeit wissenschaftliche Perspektiven förderte und umgekehrt in der Wissenschaft ein Verständnis für die Arbeitswelt und die Gewerkschaften ermöglichte. Nicht zuletzt entstanden hierdurch verzweigte Netzwerke und Kontakte zwischen Gewerkschaften und Wissenschaft, die dann für die Gewerkschafts- und die industriesoziologische Forschung insgesamt äußerst hilfreich waren. Sie erleichterten nicht zuletzt die betrieblichen Zugänge für die Forscher*innen am Institut. Karin Benz-Overhage konnte aufgrund ihrer langjährigen Kontakte in der IG Metall wesentlich dazu beitragen, für die „Computerstudien“ die erforderlichen Zugänge in die Betriebe der untersuchten Elektro- und Automobilindustrie und des Maschinenbaus herzustellen. „Ich kannte ja auch die Konzernbetriebsratsvorsitzenden. Da waren viele mal auch schon in den Sechs-Wochen-Bildungsobleute-Lehrgängen gewesen.“ Diese Kontakte waren für die Forschung essenziell: „Wir haben ja technologische Umbruchsprozesse begleitet. Wir waren darauf angewiesen, über vier bis fünf Jahre in die Betriebe reinzukommen. Das heißt natürlich: Du musst dir im Betrieb beim Management ein sicheres Standbein verschaffen, um wiederkommen zu können.“
Innergewerkschaftliche Konflikte und die Forschung
Auch die innergewerkschaftlichen Konflikte wurden für die Forschung am Institut relevant und zugleich Gegenstand der Untersuchung. Das betrifft insbesondere die Gewerkschaftsstudien. Hier waren besonders Kontakte in der IG Chemie, Papier, Keramik von Bedeutung. Otto Jacobi erinnert sich: „Es gab einen linken Flügel in der IG Chemie.“ Deren Vertreter waren sehr an einer Zusammenarbeit mit kritischen Wissenschaftlern interessiert. „Dann kam ein neuer Vorsitzender, der konnte mit Wissenschaft überhaupt nichts anfangen. Der hat uns richtig bekämpft. Da war ich mit dem Edwin Schudlich hier bei dem Arbeitgeberpräsidenten in Wiesbaden für ein Interview. Und da hat der uns gesagt, er hätte mit dem IG-Chemie-Vorsitzenden gesprochen. Und der IG-Chemie-Vorsitzende hätte ihn, den Arbeitgeberpräsidenten, gewarnt, mit uns zu reden. Da hat er gesagt: Ja, er macht kein Interview, aber wir können reden. Und dann haben wir da stundenlang geredet.“
Die Ablehnung der Gewerkschaftsforschung des IfS in Teilen der Gewerkschaften hatte auch Auswirkungen auf die Veröffentlichung der Studien. Der erste Band der Studien von Bergmann/Jacobi/Müller-Jentsch erschien wie die Bände der „Frankfurter Beiträge zur Soziologie“, der Schriftenreihe des IfS seit seiner Wiedererrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Europäischen Verlagsanstalt (EVA), zu deren Besitzern inzwischen die Gewerkschaften gehörten. „Den Vorstandsvorsitzenden der großen Industriegewerkschaften“, so Ludwig von Friedeburg, damals geschäftsführender Direktor des IfS, in der Rückschau, „bereitete der erste Band (...) solches Unbehagen, daß sie ihre Vertreter im Verlagsbeirat anwiesen, die Verträge bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zu ändern.“[6] Sie forderten für zukünftige Veröffentlichungen ein Mitspracherecht, was vom IfS natürlich abgelehnt wurde. Schon der zweite Band erschien beim „aspekte“-Verlag, die späteren Veröffentlichungen dann bei Campus.
Kritische Jahrbücher: Gewerkschaften und Klassenkampf
Dennoch gab es noch lange gute Kontakte in der IG Chemie. In der Gewerkschaftsstudie wurde unter anderem der Konflikt zwischen einigen Vorsitzenden großer Betriebsräte und großen Teilen insbesondere des linken Gewerkschaftsflügels der IG Chemie herausgestellt. Dass die Forscher am IfS in den Gewerkschaften als Vertreter des linken Gewerkschaftsflügels galten, „hing auch mit den ‚Kritischen Jahrbüchern‘ zusammen: ‚Gewerkschaften und Klassenkampf‘, die wir rausgebracht haben.“ Diese erschienen jährlich von 1972-1975 als Fischer-Taschenbuch, herausgegeben von Otto Jacobi, Walther Müller-Jentsch und Eberhard Schmidt, von 1978-1988 dann als „Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch“ beim Rotbuch-Verlag. Sie kombinierten aktuelle Analysen der Gewerkschaftspolitik mit Berichten aus Betrieben und wurden in den Gewerkschaften und auch von vielen betrieblichen Funktionären gelesen.
Gewerkschaftsforschung und Gesellschaftstheorie im IfS
„Wir haben eigentlich überhaupt nicht viel untereinander diskutiert“, so beantwortet Karin Benz-Overhage meine Frage nach der Bedeutung des Theorems der „reellen Subsumtion“ für die industriesoziologische Forschung am Institut. Dieses an die Marxsche Analyse anschließende Theorem besagte – verkürzt gesagt –, dass die lebendige Arbeit in der Entwicklung des Kapitalismus nicht mehr nur durch die Marktzwänge im Verkauf der Arbeitskraft, sondern auch ganz „reell“ im kapitalistischen Arbeitsprozess dem Kapital durch Arbeitsteilung, Trennung von Hand- und Kopfarbeit, Automatisierungs- und Informatisierungsprozesse subsumiert wird. Es sollte damals einen wichtigen theoretischen Bezug der empirischen Forschung insbesondere um die „Computerstudien“ herstellen. In der Rückschau konstatiert Karin Benz-Overhage nun: „Unsere Studie wurde im Institut nicht groß beachtet.“ Otto Jacobi wirft ein: „Das weiß ich nicht, aber jedenfalls es gab keine große Zusammenarbeit zwischen Eurem und unserem Schwerpunkt.“ Allerdings war der damalige Co-Direktor Gerhard Brandt „jemand, der auch inhaltlich mitgearbeitet hat.“ Aber die einzelnen Projekte hätten im Rahmen der „Teamautonomie“ weitgehend für sich gearbeitet. Otto Jacobi: „Das lief alles so parallel nebeneinander her.“ Brandt war „der einzige Vermittler zwischen euren und unseren Sachen.“
Beide Forschungsbereiche hätten sich nur schwach auf die Kritische Theorie von Adorno und Horkheimer bezogen. Otto Jacobi: „Es gab so eine linke Orientierung. Natürlich haben wir den Marx gelesen von vorne bis hinten.“ Aber zwischen Kritischer Theorie und der empirischen Forschung sei die Verbindung eher locker gewesen. Man sei sich wohl einig gewesen, dass das Institut wieder eine stärker politisch-ökonomische und industriesoziologische Ausrichtung gegenüber der damals als eher ideologiekritisch empfundenen Ausrichtung der klassischen Kritischen Theorie gewinnen sollte. Aber eine systematische Auseinandersetzung der seinerzeitigen Ausrichtung mit der Kritischen Theorie habe nicht stattgefunden. Die empirische Forschung hatte weniger einen theoretischen als vielmehr einen politischen Bezug und zielte auch auf Interventionen in gesellschaftliche Auseinandersetzungen ab.
Allerdings machte die empirische Forschung gerade in den Gewerkschaftsstudien zugleich eine Entwicklung durch, wie sie auch für die klassische Kritische Theorie konstatiert wird: „Je mehr wir in dieser Gewerkschaftsforschung drin waren, haben wir die stabilisierenden Funktionen, sind die uns klar geworden.“ Und Karin Benz-Overhage erinnert sich, dass sich ihr Interesse in der Forschung auch auf die Frage richtete, wie die Arbeit „das Bewusstsein der arbeitenden Bevölkerung prägt. Oder: Warum findet die Revolution nicht statt?“
[1] Brandt, Gerhard: Ansichten kritischer Sozialforschung 1930-1980. In: Institut für Sozialforschung: Gesellschaftliche Arbeit und Rationalisierung. Neuere Studien aus dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Leviathan Sonderheft 4/1981. Opladen 1981: Westdeutscher Verlag, 9-56, hier: S. 47.
[2] Bergmann, Joachim, Otto Jacobi und Walther Müller-Jentsch: Gewerkschaften in der Bundesrepublik. Band 1: Gewerkschaftliche Lohnpolitik zwischen Mitgliederinteressen und ökonomischen Systemzwängen. Frankfurt a.M.-Köln 1975: EVA. Und: Bergmann, Joachim und Walther Müller-Jentsch: Gewerkschaften in der Bundesrepublik, Band 2: Gewerkschaftliche Lohnpolitik im Bewußtsein der Funktionäre. Frankfurt/M 1977: aspekte verlag.
[3] Brandt, Gerhard / Jacobi, Otto / Müller-Jentsch, Walther: Anpassung an die Krise. Frankfurt/M-New York 1982: Campus.
[4] Benz-Overhage, Karin, Eva Brumlop, Thomas von Freyberg und Zissis Papadimitriou: Neue Technologien und alternative Arbeitsgestaltung. Auswirkungen des Computereinsatzes in der industriellen Produktion. Frankfurt-New York 1982: Campus. Vgl. auch die Vorgängerstudie: Brandt, Gerhard, Bernard Kündig, Zissis Papadimitriou und Jutta Thomae: Computer und Arbeitsprozeß. Eine arbeitssoziologische Untersuchung der Auswirkungen des Computereinsatzes in ausgewählten Betriebsabteilungen der Stahlindustrie und des Bankgewerbes. Frankfurt-New York 1978: Campus.
[5] Hans Matthöfer war von 1960 bis 1972 Leiter der Bildungsabteilung beim Vorstand der IG Metall, dort entwickelte er die betriebsnahe Bildungsarbeit. Von 1974 bis 1978 war er Minister für Forschung und Technologie und wesentlicher Initiator des Forschungsprogramms zur „Humanisierung der Arbeitswelt“ (HdA), schließlich von 1978 bis 1982 Bundesfinanzminister. Das HdA-Programm führte dann aufgrund der bereitgestellten Forschungs- und Finanzierungsmöglichkeiten zu einer Blütezeit industriesoziologischer Forschung in der BRD und der sie tragenden Forschungsinstitute (vor allem SOFI Göttingen, ISF München, Sozialforschungsstelle Dortmund und IfS Frankfurt a.M.).
[6] Friedeburg, Ludwig von: Kooperation und Konkurrenz. Industriesoziologische Forschung in der westdeutschen Nachkriegszeit. In: SOFI-Mitteilungen 25/1997, S. 25-31, hier S. 30.
Autor: Stephan Voswinkel