Preisausschreiben »Erfahrungen mit dem Nazi-Antisemitismus« 1943

Unter der Überschrift »Erfahrungen mit dem Nazi-Antisemitismus« veröffentlichte die deutsch-jüdische Exilzeitung »Aufbau« in New York am 8. Oktober 1943 einen Aufruf zu einem »Preisausschreiben«: Aus Deutschland geflüchtete Juden und Antifaschisten wurden aufgefordert, dem Institut für Sozialforschung Berichte über jene Erfahrungen zuzuschicken, die sie vor ihrer Flucht mit Judenverfolgung, Pogromen und Konzentrationslagern gemacht haben. »Besonders wertvoll«, hieß es, »sind uns Mitteilungen, welche die soziale oder regionale Gruppe, auf die sich die Angaben beziehen, näher bezeichnen. (…) Wir wollen auch wissen, auf welches Jahr sich die Beobachtungen beziehen und womöglich ob sich die Verhaltungsweisen im Laufe der Zeit geändert haben. Wir wollen wissen, wie bestimmte Massnahmen und Ereignisse auf das Verhalten der Bevölkerung zu den Juden gewirkt haben.« Für die »wichtigsten Mitteilungen« wurden sechs Geldpreise zwischen $10 und $30 ausgelobt, als Jury fungierten Max Horkheimer, Thomas Mann, Paul Tillich sowie der Chefredakteur des »Aufbau«, Manfred George.

Das IfS erreichten 110 Briefe, in denen die Schreiber in unterschiedlichster Weise mit Ereignissen auseinandersetzen, die für sie bezeichnend für das politische Klima, die katastrophale eigene Situation, das Grauen im Nationalsozialismus waren. Manche Briefe waren kurz und bündig, andere legen auf über 50 Seiten dar, wie die Verfasser die zunehmende Entdemokratisierung, die schleichende Anpassung ans nazistische Regime mitsamt seiner Entmenschlichung sowie die Normalisierung des Antisemitismus erlebten. Auch die Einsender selbst stammten erkennbar aus unterschiedlichen Schichten: Neben Rechtsanwälten, Ärzten und Vertretern anderer »gehobenen Stände«, die fast schon Abhandlungen verfassten, nutzten Menschen die Gelegenheit, Zeugnis abzulegen, die ansonsten offenkundig wenig schrieben und in zuweilen ungebildeter Sprache von ihren empörenden Erfahrungen berichten.

Als einziges zeitgenössisches Ergebnis des Preisausschreibens erschien ein 35-seitiger »Preliminary Report on The Contest on the German People and Antisemitism« innerhalb des Berichts der »Studies in Antisemitism« – dieser wie jener sind bis heute unpubliziert. Grund für die marginale Verarbeitung des Materials wird die Tatsache gewesen sein, dass die Forschung des Instituts unterdessen, gefördert durch das American Jewish Committee, das Vorhaben der »Studies in Prejudice« mittels einer umfangreichen systematischen empirischen Erforschung des »Autoritären Charakters« verfolgte, für die die Erlebnisberichte wenig Relevanz hatten.

Die Briefe, die dem IfS 1943 zugegangen sind, haben sich allesamt in dessen Archiv erhalten. Sie sollen nach wissenschaftlichen Standards erschlossen und veröffentlicht werden. Dazu ist neben der zeichengetreuen Transkription der Originale die Einrichtung von kontextualisierenden Anmerkungen unerlässlich, die erschließen, was 80 Jahre nach der Niederschrift der heutigen Rezeption nicht mehr ohne weiteres gegenwärtig sein kann; daneben ist die übliche Sachkommentierung zu leisten. Ein ausführliches Nachwort informiert nicht nur über die Editionsprinzipien, sondern stellt das damalige Preisausschreiben in einen Zusammenhang mit vergleichbaren Projekten anderer Institutionen sowie in den Kontext mit anderen Autoritarismusstudien des IfS zuvor und danach.

Antragsteller:in
Projektbearbeitung