Religiöse und nichtreligiöse Kontingenzbewältigung in der individualisierten Gesellschaft
Kontingenzbewältigung wird in den Sozial- und Geisteswissenschaften in erster Linie als ein religiöses Phänomen betrachtet. Durch eine derart verengte Sicht haben nichtreligiöse Formen der Kontingenzbewältigung nicht die systematische Beachtung gefunden, die sie verdienen. Darüber hinaus mangelt es den überwiegend theoretischen und ideengeschichtlichen Analysen zu Kontingenzerfahrungen und ihrer Bewältigung nicht nur an empirischen Fundierungen, sondern auch an gegenstandsadäquaten begrifflichen Konturierungen. Das Vorhaben widmet sich diesen Desideraten: Es werden sowohl religiöse als auch nichtreligiöse Praktiken der Kontingenzbewältigung in den Blick genommen. Dabei beforscht das Projekt spezifisch moderne Kontingenzerfahrungen, die durch gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen hervorgerufen und von Akteurinnen und Akteuren im Modus einer Biographisierung des Lebenslaufs erlebt werden. Das Ziel ist die Entwicklung einer empirisch begründeten Theorie, die religiöse und nichtreligiöse Strategien der Kontingenzbewältigung in ihrer Entstehung, Anwendung und Wirkung erklärt.
Dies wird im Rahmen eines qualitativen Forschungsdesigns in zwei zentralen Dimensionen realisiert: Es werden (1) Formen spezifisch moderner Kontingenzerfahrungen in lebensgeschichtlichen Entscheidungssituationen analysiert und in Bezug darauf verschiedene (2) Formen einer gelingenden bzw. misslingenden religiösen und nichtreligiösen Kontingenzbewältigung miteinander verglichen. Ihre Wirkungsweisen werden hinsichtlich ihrer Potenziale zur Wiederherstellung oder weiteren Destruktion eines Kohärenzempfindens in der persönlichen Lebensführung untersucht. Die methodische Umsetzung des Projektes erfolgt über die Grounded-Theory-Methodologie nach Strauss und Charmaz in Kombination mit dem typenbildenden Verfahren nach Kelle und Kluge.
Durch diese Instrumente der empirischen Sozialforschung ist eine Typologisierung spezifisch moderner Kontingenzerfahrungen und ihrer religiösen bzw. nichtreligiösen Bewältigung sowie eine daran anknüpfende systematische Theoriebildung gewährleistet; diese bezieht sich innerhalb des religiösen Sektors auch auf den Vergleich zwischen christlich, islamisch und hinduistisch geprägten Bewältigungspraktiken. Die Forschungsergebnisse dienen zum einen der Erweiterung des bisherigen Wissens über die Funktionalität von Religiosität und Nichtreligiosität in Prozessen der Kontingenzbewältigung; zum anderen tragen sie zu einer Aktualisierung des soziologischen Verständnisses von Kontingenzbewältigung unter spätmodernen Lebensbedingungen bei.