Psychotherapeutische Behandlung arbeitsbezogenen Leidens in Deutschland (in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Freiburg)
Dass sich die Arbeitsbedingungen in der Gegenwartsgesellschaft in einem grundlegenden Wandlungsprozess befinden, ist mindestens seit der Debatte um das Burn-Out, spätestens aber seit der Covid-19-Pandemie in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Die zunehmende Flexibilisierung, Prekarisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt wird von einer Zunahme psychischer Belastungen flankiert: Die Arbeit kann nicht nur psychische Leiden auslösen oder verstärken, sondern es auch erschweren, auf gesundheitliche Beeinträchtigungen rechtzeitig angemessen zu reagieren. Die steigenden Zahlen psychiatrischer Diagnosen stellen somit auch eine Frage nach der klinischen, therapeutischen Versorgung.
Hier setzt das Forschungsprojekt an: Erste Studien haben gezeigt, dass in psychotherapeutischen Kliniken die Arbeitsbedingungen der Patient*innen, wenn überhaupt, nur am Rande adressiert werden. Diese Lücke in der Behandlungspraxis hat Folgen für das arbeitsbezogene Leiden der Patient*innen: Häufig wird es in seinen sozialen Dimensionen verkannt, dadurch individualisiert und letztlich privatisiert.
Das Forschungsprojekt nimmt die psychotherapeutischen Perspektiven zum Zusammenhang von Arbeit und Leiden soziologisch in den Blick: Es wird qualitativ-empirisch untersucht, wie Arbeit in psychotherapeutischen Einrichtungen verhandelt wird. Welche Bedeutung schreiben die multiprofessionellen Teams den Arbeitsbedingungen und -belastungen für die Situation ihrer Patient*innen zu? Wie genau deuten und behandeln sie im Alltag der Kliniken das arbeitsbezogene Leiden der Patient*innen? Welche Rolle spielen dabei womöglich geschlechtsspezifische Annahmen und Ideen über die Herkunft und den sozialen Status der Patient*innen? Welchen Einfluss nehmen die psychotherapeutischen Therapieverfahren?
Das Ziel des Projekts ist die Entwicklung einer Typologie des psychotherapeutischen Verständnisses von arbeitsbedingtem Leiden auf der Grundlage der Rekonstruktion von Praxistheorien. Im Rahmen einer ethnografischen Feldforschung in psychosomatischen Akut- und Rehakliniken in Deutschland werden qualitative Daten erhoben. Neben ethnografischen Beobachtungen werden Einzelinterviews und Gruppendiskussionen geführt und mit der dokumentarischen Methode sowie inhaltsanalytisch ausgewertet.
Antragstellung und Projektleitung: Prof. Dr. Sabine Flick (Pädagogische Hochschule Freiburg)
Projektbearbeitung: Prof. Dr. Sabine Flick (Pädagogische Hochschule Freiburg), Alexander Herold (Pädagogische Hochschule Freiburg), Ina Braune (IfS Frankfurt am Main)
Publikationen
Flick, Sabine, Ina Braune und Alexander Herold 2024: Multiprofessionalität als Chimäre? Zum professionellen Selbstverständnis des klinischen Sozialdiensts in der Psychosomatik. In: DZI Zeitschrift für Soziale Arbeit, 8-9, 328–334.
Flick, Sabine, Ina Braune und Alexander Herold 2024: Eine Therapie Sozialen Leidens? (Un-)Möglichkeiten psychotherapeutischer Praxis in der gegenwärtigen Arbeitsgesellschaft. In: Mirko Broll und Eva Fleischmann (Hg.): Handeln in einer schlechten Welt. Zur Kritik im Handgemenge. IfS aus der Reihe 3. Berlin: Bertz und Fischer.