Strukturwandel der Anerkennung im 21. Jahrhundert
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Axel Honneth, Prof. Dr. Klaus Günther, Prof. Dr. Peter Niesen, Prof. Dr. Werner Plumpe, Dr. habil. Stephan Voswinkel, Prof. Dr. Thomas Welskopp
Wissenschaftliche Mitarbeiter_innen: PD Dr. Gabriele Wagner, Nora Sieverding, Titus Stahl M. A., Thomas Balzer M. A., Ophelia Lindemann M. A., Christian Reuber M. A., Ulrike Schulz M. A., Dipl.-Soz Caroline Huyard, Louis Carré, Dr. Ilenya Camozzi
Anerkennung ist ein Schlüsselbegriff unserer Zeit. Gesellschaftliche Konflikte werden von den Beteiligten meist nicht nur als Kämpfe um materielle Besserstellung beschrieben, sondern ebenso als Kämpfe um Anerkennung. Menschliches Sozialverhalten wird auch vom Bemühen motiviert, emotionale Zuwendung, Achtung, Respekt und individuelle Wertschätzung zu erlangen. Die Erfüllung von Anerkennungsbedürfnissen ist eine notwendige Bedingung für die Ausbildung unbeschädigter intersubjektiver Beziehungen und personaler Identität.
Anerkennung lässt sich nicht als eine einheitliche Einstellung konzeptualisieren, sondern tritt in Form von mehreren irreduziblen Varianten auf. Das Projekt geht von drei komplementären »Anerkennungssphären« aus, denen drei verschiedene »Anerkennungsmodi« entsprechen: In den Systemen von Recht und Politik wird ein formalistisch-allgemeiner Anspruch auf Anerkennung realisiert; im Arbeits- und Berufsleben geht es um die Anerkennung von kollektiven Besonderheiten; in Familie und Partnerschaft sucht das Individuum Anerkennung seiner unverwechselbaren Einzigartigkeit.
In historischer Perspektive wird das komplexe, intern differenzierte System der Anerkennung als ein zentrales Charakteristikum der abendländischen Moderne verstanden, das aus vielfältigen Ausdifferenzierungsprozessen einer einheitlichen Ehrsemantik hervorgegangen ist. Die Rekonstruktion seiner Historizität untersucht die konkreten historischen Umbrüche seit 1750, auf die die Ausdifferenzierung der Anerkennungsbeziehungen reagiert hat, und bildet die Grundlage für zeitdiagnostische Analysen aktueller Veränderungen, die sowohl die Sphärendifferenzierung als auch die in ihnen verwirklichten Anerkennungsformen betreffen. Die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den jeweiligen sozialen Kontexten zu beobachtenden Funktionsverluste und Anerkennungskämpfe können zur gesellschaftsdiagnostischen These gebündelt werden, dass das Gleichgewicht der sozialen Gewährung generalisierter und individualisierter Anerkennung, die die dreifache Sphärendifferenzierung in der Moderne zu leisten beanspruchte, in Auflösung begriffen ist und innerhalb der jeweiligen Anerkennungssphären um eine neue Balance zwischen generalisierten und individualisierten Ansprüchen gekämpft wird.
Dieser empirische, in seinen konkreten Ausprägungen zu untersuchende Befund wirft grundlegende Legitimationsfragen auf: Welche normativen Ansprüche werden zu Recht, welche zu Unrecht erhoben? Welche sozialen Kämpfe sind auf genuine Verletzung und Missachtung zurückzuführen, welche überspannt oder verfehlt?
Das Forschungsprojekt bringt historiographische, juristische, soziologische und philosophische Fragestellungen in der Erforschung einer zentralen Gegenwartskategorie zusammen. Dabei stellt es sich in die Forschungstradition der Kritischen Theorie. Gegenüber der in Frankfurt bisher geleisteten Anerkennungsforschung sind drei auch methodische Neuorientierungen zu nennen: Erstens soll der methodische Zuschnitt des geschichtswissenschaftlichen Teilprojekts zeigen, dass die Appropriation eines komplexen Anerkennungsbegriffs auch aus dem Inneren einer systemtheoretischen, auf das Verhältnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik konzentrierten Perspektive heraus sinnvoll und historisch stichhaltig ist. Zweitens wird der in der bisherigen Forschung unterbestimmt gebliebene Beitrag, den der Integrationsmodus des positiven Rechts zu gesamtgesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen leistet, herausgearbeitet. Drittens stellt der projektierte Entwurf eines moralphilosophisch-präskriptiven Ansatzes einen ersten Schritt dar, die vielfach angemahnte Unterscheidung zwischen sozialphilosophischer Beobachtung und normativer Beurteilung in der Anerkennungstheorie zu verankern.
Das Projekt ist unterteilt in drei große Teilprojekte. Das erste Teilprojekt beschäftigt sich mit der Sozialgeschichte der Anerkennung; das zweite ist mit dem Strukturwandel der Sphären der Anerkennung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, insbesondere in den Bereichen des Rechts, der Wirtschaft und der Arbeit, befasst; das dritte schließlich erarbeitet deontologische Kategorien für eine normative Reflexion von Anerkennungsansprüchen.
Abschlussveröffentlichung aus dem Projekt
Axel Honneth, Ophelia Lindemann und Stephan Voswinkel (Hg.): Strukturwandel der Anerkennung im 21. Jahrhundert. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart. Frankfurt a. M. und New York: Campus 2013