Gleichheitsanspruch und Geschlechterdifferenzen in Eltern-Kind-Beziehungen: die Praxis normativer Ordnungen
Projektbearbeitung: Prof. Dr. Kai-Olaf Maiwald, Dr. Claudia Peter und Dipl.-Soz. Roger Greunke
Unterbrechung 1. Oktober 2008 bis 31. März 2009
Familienbeziehungen stellen herausgehobene Orte des Aufeinandertreffens von Normen unterschiedlicher Art dar. Betrachtet man den Typus der bürgerlichen Familie, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstand und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts allgemeine Geltung beanspruchen konnte, so lassen sich herausheben: Normen der politischen Ordnung (Herrschaft, Recht), die eine grundlegende Hierarchie zwischen Männern und Frauen begründen; Normen einer kulturellen »Tiefenschicht« der Geschlechtersymbolik, die Männern und Frauen komplementäre Eigenschaften und Tätigkeitsfelder zuweisen; Normen, die auf zentrale Eigenschaften von Familienbeziehungen verweisen (Intimität, emotionale Fundierung) und die Mitglieder auf Reziprozität, Fürsorge und die Betonung der Individualität verpflichten. Das bürgerliche Familienmodell lässt sich als zeitgebundener Versuch einer »Klammer« für diese durchaus heterogenen Normvorgaben verstehen. Dieses Modell hat jedoch in den letzten Jahrzehnten seinen Geltungsanspruch in vielerlei Hinsicht eingebüßt.
Das gilt insbesondere für die komplementäre Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern, die dem Mann die instrumentell-außenorientierten Funktionen (Erwerbsarbeit), der Frau die expressiv-binnenorientierten Funktionen (Kinderfürsorge, Hausarbeit) zuwies. Die Grundlagen ihrer Rechtfertigung – in Gestalt von Traditionalismen, Biologismen und spezifischen Geschichtsdeutungen – wurden einer weitgehenden Kritik unterzogen. Auch konnte ein Rekurs auf die faktischen Geschlechterverhältnisse nicht mehr in der Weise als Begründung fungieren. Waren sie noch bis in die 1960er Jahre hinein als homolog zum bürgerlichen Familienmodell erfahrbar (es gab relativ wenige erwerbstätige Frauen, und wenn, dann in untergeordneten Positionen und in »feminisierten« Berufen, das heißt solchen, die den Funktionen in der Familie vermeintlich entsprachen), so änderte sich dies mit der zunehmenden Erwerbsbeteiligung von Frauen – bis hin zu der weitgehenden Institutionalisierung der Norm weiblicher Erwerbstätigkeit.
Der Bedeutungsrückgang der Komplementarität – zumindest in normativer Hinsicht – wurde begleitet von einem Prozess der »Demokratisierung« der Familienbeziehungen, der in einer zunehmenden Bedeutung von Ideen der Gleichheit und Verteilungsgerechtigkeit als normativen Bezugspunkten des Handelns zum Ausdruck kam. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Paarbeziehungen, sondern auch das Verhältnis von Eltern und Kindern. Der Interaktionsstil wird nicht nur zunehmend egalitärer im Sinne eines Abbaus der innerfamilialen Hierarchie, die Eltern orientieren sich auch weniger an einer »geschlechtsangemessenen« Erziehung, stattdessen mehr an einer Gleichbehandlung von Jungen und Mädchen sowie an der Berücksichtigung und Förderung der je besonderen Persönlichkeit des Kindes.
Trotz dieser Entwicklungen kann man nicht davon sprechen, dass eine neue normative Ordnung der innerfamilialen Geschlechterbeziehungen die des bürgerlichen Modells vollständig ersetzt hätte. So ist weiterhin – zumindest innerhalb bestimmter Bereiche der allgemeinen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit – ein Differenzdiskurs von Bedeutung, in dem eine Ungleichheit der Geschlechter betont und als naturgegeben verstanden wird. Vor allem aber lässt sich, wie auch bei der ehelichen Arbeitsteilung, eine erhebliche Diskrepanz zwischen den normativen Vorgaben und der faktischen Praxis feststellen. So weisen auch Kinder von explizit egalitär orientierten Eltern häufig Persönlichkeitseigenschaften auf, die den alten Geschlechterstereotypen entsprechen.
Das Projekt will den Erklärungsproblemen, die mit diesen Ungleichzeitigkeiten verbunden sind, in einer empirischen Untersuchung nachgehen. Es werden Analysen von Eltern-Kind-Interaktionen (Videoaufzeichnungen) und von Interviews mit Eltern durchgeführt. Darüber sollen Fragen bearbeitet werden, die zum einen die Realität der Normen im Alltagshandeln betreffen: Wie schlagen sich die Normen der »Egalität« und »Individualität« in den expliziten Orientierungen der Eltern und in der faktischen Interaktion nieder? Auf welche Weise können gleichwohl geschlechterdifferenzierende Muster in der Eltern-Kind-Interaktion emergieren? Haben diese Muster selbst einen normativen Status für die Eltern-Kind-Beziehungen?
Es stellen sich andererseits auch Fragen hinsichtlich der »Rückkopplung« aus der Erziehungserfahrung. Gerade für explizit egalitär orientierte Eltern bedeuten geschlechtstypische Eigenschaften ihrer Kinder ein Erklärungsproblem. Wie wird mit dieser Diskrepanz umgegangen? Werden die Eigenschaften als Ausdruck der Individualität des Kindes verstanden? Wird also eine Übereinstimmung mit den entsprechenden normativen Vorgaben hergestellt? Oder ist die eigene Erziehungserfahrung Anlass, die Normen der Egalität in Frage zu stellen? Gibt es von hier aus ein Potenzial zur Revitalisierung von Annahmen einer naturgegebenen Geschlechterdifferenz? Oder gibt es schlicht eine Gleichzeitigkeit heterogener Annahmen und Handlungsstile?
Diese für die Geschlechter- und Sozialisationsforschung relevanten Fragen wurden bislang empirisch kaum erforscht. Es fehlen vor allem Analysen alltäglicher sozialisatorischer Interaktion. Dabei kann erst mit detaillierten Fallanalysen solchen Datenmaterials, die auch die Ebene impliziter Strukturen des Handelns erschließen, ein Beitrag zur Bestimmung des »Ortes« der unterschiedlichen normativen Ordnungen in der Alltagspraxis sowie zur Generierung theoretischer Hypothesen zur Dynamik normativen Wandels geleistet werden.
Bei der Bearbeitung dieser Fragen orientieren wir uns in theoretischer Hinsicht stark an der Sozial- und Sozialisationstheorie Talcott Parsons. Interessant sind für uns insbesondere seine wenig rezipierten sozialpsychologischen Schriften, in denen im Kern ein theoretisches Modell enthalten ist, das familiale Sozialisation als interaktive Herausbildung geteilter Wertmuster bestimmt. Familienbeziehungen erscheinen damit nicht bloß als Agenten der Reproduktion normativer Ordnungen, sondern gleichzeitig als Orte ihrer potenziellen Transformation. Von besonderer Bedeutung für unsere Überlegungen ist auch die Soziologie Luc Boltanskis, die sowohl ein theoretisches Modell der Verknüpfung normativer Ordnungen und Rechtfertigungsmuster wie auch exemplarische Analysen zur Realität von Normen in der Alltagspraxis bereitstellt.