Bewährungsprobe durch das Fernsehen. Eine Studie über die medialen Formen der Anerkennung
Antragstellung: Prof. Dr. Axel Honneth und Prof. Dr. Louis Quéré
Projektbearbeitung: Dr. Olivier Voirol und Cornelia Schendzielorz M. A.
Im Verlauf der letzten zehn Jahre sind wir Zeugen eines tiefgreifenden Wandels des Fernsehens geworden, der vor allem durch die Entstehung von Formaten gekennzeichnet ist, die Reality TV (Telerealität) genannt werden. Eine wesentliche Neuerung dieser Formate besteht darin, dass sie fortwährend Bewertungssituationen in Szene setzen, in denen die Teilnehmer auf ihre Eignung, soziale Beziehungen einzugehen, und ihre expressiven Fähigkeiten geprüft werden.
Den zeitdiagnostischen Rahmen für unser grundlegendes Interesse am Phänomen des Reality TV bildet die Vermutung, dass die Bewertungsmodi, die in diesen Fernsehformaten allgegenwärtig sind, als »typische« kulturelle Ausdrucksform von aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozessen angesehen werden können: Denn diese medialen Erzählungen setzen den zunehmenden Einfluss von normativen Bewertungen in allen Sektoren der Gesellschaft (Arbeit, Schule, Paarbeziehungen usw.) in spezifischer Art und Weise in Szene. In ihnen kommen Inszenierungen von sozialen Verhältnissen zum Ausdruck, die mit übergreifenden sozialen und ökonomischen Entwicklungstendenzen der gegenwärtigen Gesellschaften in Verbindung stehen. Diese Fernsehformate sind selbst Teil eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses, in dessen Zentrum vor allem der wachsende Einfluss von Bewährungsproben steht. Sie stellen aus unserer Sicht eine Art »Prisma« dar, in dem sich eine Reihe von grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen brechen, die die sozialen Beziehungen, die Formen der Subjektivierung und die Muster der interpersonalen Beziehungen betreffen, durch deren Vermittlung die Subjekte sich wechselseitig wertschätzen. Gleichzeitig verweisen diese Sendungen auf die besondere Rolle, die die medialen Institutionen im gesellschaftlichen »Kampf um Anerkennung« spielen. Auf Basis unserer Analyse soll auch geklärt werden, was sich über den generellen Wandel der Bewertungsformen der sozialen Subjekte in den gegenwärtigen Gesellschaften sagen lässt.
Insgesamt erscheinen die Formate des heutigen Fernsehens besonders geeignet, den gegenwärtigen Wandel der kulturellen Produktion zu untersuchen, der mit einer Zunahme der kulturellen Praktiken von Amateuren ebenso einhergeht wie mit einer Reihe von neuen sozialen Aufforderungen zur Partizipation und zur Selbstenthüllung. Kulturelle Bewertungsprozesse und Dramaturgien der Bewährung spielen dabei eine zentrale Rolle. Auf deren empirische Analyse ist das Hauptaugenmerk des Projekts gerichtet.
Das Projekt untersucht das Phänomen des Reality TV anhand der Talent Shows exemplarisch an den Sendungen Deutschland sucht den Superstar und dem französischen Pendant La Nouvelle Star. Diese zwei Sendungen setzen einen Aspekt in besonders prononcierter Weise in Szene, der sich als eine wichtige treibende Kraft durch alle Sendungen des heutigen Reality TV zieht: die Bewertung von Personen, die im Kontext öffentlicher Bewährungsproben ablaufen, wobei dem Anspruch nach ihre »Fähigkeiten« beurteilt werden.
Methodisch werden anhand von ausgewählten Sequenzen aus den Sendungen und dem dazugehörigen Magazin die Inszenierungsformen, Adressierungsmodi, Bewertungs- und Urteilsregister sowie die »enunziativen« Merkmale rekonstruiert. Darüber hinaus soll der spezifische Inhalt der Bewertungsverfahren systematisch analysiert werden, da diese im Kontext des Reality TV generell eine wichtige narrative Antriebskraft darstellen. Parallel dazu erfolgt eine ethnographische Analyse der Produktion dieser Sendungen anhand von Beobachtungen im Feld (bei Castings und in den Life-Shows sowie anhand von Interviews). Letztere sollen darüber Aufschluss geben, in welche Beziehung die in unterschiedlicher Form Beteiligten sich zu der Sendung setzen. Hier stehen Analysen der Selektionsprozesse und Produktionsorte im Vordergrund, da deren Zugänglichkeit von Regeln der Inszenierungsmodi durchzogen ist. Die Positionierung der Beteiligten im Kontext der Sendung ergänzt die Analyse der Inszenierungsformen, Adressierungsmodi, Bewertungs- und Urteilsregister, indem sie uns Einblicke in die Rezeptions- und Partizipationsverhältnisse der Sendung gewährt, die nicht selber von der Sendung produziert und gezeigt wurden. Dadurch soll außerdem eine umfassende Rekonstruktion der verschiedenen Teilnahmepositionen, die die Sendung den jeweiligen Beteiligten zuweist, ermöglicht werden, welche die Wechselwirkungen zwischen Produktion und Rezipienten mit berücksichtigt, um dann den Bogen zu gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen schlagen zu können.
Das Projekt wurde im Dezember 2008 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Agence Nationale de Recherche (ANR) bewilligt und hat seine Arbeit im Juni 2009 aufgenommen. Es wird in Kooperation mit dem Institut Marcel Mauss an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris und dem Laboratoire de Sociologie an der Universität von Lausanne geführt. Die Projektlaufzeit beträgt vorerst zwei Jahre.