Moralische Akteure auf dem Finanzmarkt. Bedingungen der Entstehung, Aufrechterhaltung und Verbreitung moralischer Normen im Wirtschaftssektor
Projektbearbeitung: Prof. Dr. Lisa Herzog, Johannes Röß M. A.
Das Forschungsprojekt geht im Anschluss an wirtschaftssoziologische Überlegungen (Amitai Etzioni und Albert O. Hirschman) von der Prämisse aus, dass auch die Wirtschaft eine normengeleitete Handlungssphäre darstellt, in der die Regeln der individuellen Nutzenorientierung jeweils im Horizont einer ganzen Bandbreite von moralischen Grundüberzeugungen gedeutet werden müssen. Erst diese normative Auslegung systemisch vorgegebener Maximen der Gewinnmaximierung legt am Ende fest, welche wirtschaftlichen Transaktionen als legitim und welche als bedenklich oder verwerflich angesehen werden. Diese Ausgangsthese soll am Beispiel des Subsystems Finanzmarkt empirisch überprüft werden, indem am exemplarischen Fall einer moralischen Werten verpflichteten Bankengruppe untersucht wird, welche Bedingungen zur Herausbildung der entsprechenden Normen geführt haben, welche Maßnahmen zu ihrer Stabilisierung unternommen werden und welche systemimmanenten Schwierigkeiten einer erfolgreichen Verankerung im Weg standen.
Im Zentrum der empirischen Untersuchen steht eine aus einer entwicklungsökonomischen Beratungsfirma entstandene Bank, die sich zum Ziel gesetzt hat, durch die Vergabe von Krediten an Kleinunternehmer_innen und Kleinanleger_innen in Ländern Osteuropas, Afrikas und Lateinamerikas dazu beizutragen, vor Ort die ökonomische Entwicklung zu unterstützen. In ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Unternehmensverfassung und ihrer Personalpolitik, die zum Beispiel eine transparente Gehaltsstruktur und den Verzicht auf Boni beinhaltet, unterscheidet sich diese Bank von vielen anderen Akteuren des Finanzmarkts.
Durch Expert_innengespräche und eingebettete Beobachtungen im Alltagsgeschehen dieser Bank und insbesondere in ihren internen Schulungen sollen die Herausforderungen und Schwierigkeiten untersucht werden, denen die einzelnen Mitarbeiter_innen, aber auch die Organisation als ganze, gegenüber stehen. Diese Fragen werden – unter Einbezug von neueren Forschungen aus der Wirtschaftssoziologie und der Verhaltensökonomie – im Vergleich mit moralischen Fragestellungen in komplexen Organisationen anderer Branchen und des öffentlichen Dienstes analysiert, wobei es stets um die Doppelperspektive von individuellem Akteur und Organisation geht. Zudem soll die Tradition des »moral banking« (zum Beispiel Genossenschaftswesen) in den Blick genommen werden, um systematisch Hindernisse und Erfolgsaussichten moralischen Handelns im Finanzmarkt zu analysieren.
In einem zweiten Schritt wird eine Verbindung zur Auseinandersetzung über »Global Justice« in der politischen Theorie hergestellt. Zur Diskussion steht die Frage, ob und unter welchen Bedingungen privatwirtschaftliche Organisationen zur Verwirklichung von mehr globaler Gerechtigkeit beitragen können, nach welchen Prinzipien ihr Handeln unter den gegebenen »nicht-idealen« Umständen zu bewerten ist und welche Änderungen im institutionellen Rahmenwerk helfen könnten, den Beitrag derartiger Akteure positiv zu verstärken.