Ilka Quindeau: Spuren des Anderen – Antisemitismus aus psychoanalytischer Perspektive

Mit ambitionierten Forschungsprogrammen suchten die Kritische Theorie und die Psychoanalyse zur Erklärung des Antisemitismus beizutragen. Doch bleibt die Frage offen, ob sich Antisemitismus psychologisch wirklich am Charakter, an der Persönlichkeitsstruktur der Einzelnen festmachen lässt, wie es die Theorie des autoritären Charakters insinuiert. In den diesjährigen Adorno-Vorlesungen entwirft die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau ein Verständnis von Antisemitismus als ideologischem Narrativ, das auf eine psychische Konfliktkonstellation reagiert und die Alterität und Ambivalenzen des Anderen negiert. Anhand der psychoanalytischen Methode der Dekonstruktion entwickelt sie ihre Analyse exemplarisch am Gruppenexperiment des Instituts für Sozialforschung aus den 1950er Jahren sowie der Antisemitismusdebatte im Rahmen der documenta 15.

Ilka Quindeau, Prof. Dr., ist Psychoanalytikerin und arbeitet seit 2020 als Fellow am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Von 2018 bis 2020 war sie Präsidentin der International Psychoanalytic University in Berlin. Sie ist zudem Professorin für Klinische Psychologie und Psychoanalyse an der Frankfurt University of Applied Sciences. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Feldern der individuellen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust sowie der Biographie-, Trauma- und Geschlechterforschung. Zu ihren Buchveröffentlichungen zählen unter anderem Der Wunsch nach Nähe. Liebe und Begehren in der Psychotherapie (zusammen mit Wolfgang Schmidbauer). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017 sowie Spur und Umschrift. Die konstitutive Bedeutung von Erinnerung für die Psychoanalyse. München: Fink 2004.

In der ersten Vorlesung mit dem Titel »Wozu Antisemitismus?« wendet Ilka Quindeau die klassische Formulierung, was Antisemitismus ist, in die Frage nach seinen psychischen Funktionen. Vor dem Hintergrund des spannungsreichen Verhältnisses zwischen Kritischer Theorie und Psychoanalyse wird ein alteritätstheoretischer psychoanalytischer Ansatz vorgestellt, welcher der Problematik der Ich-psychologischen Wende in der sozialpsychologischen Forschung zu Antisemitismus Rechnung trägt. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Dimension des Unbewussten als grundlegender Alterität im Kern des Eigenen.

Seit Adornos berühmter Interpretation des Gruppenexperiments gilt das Schuldabwehr-Theorem als feste Gewissheit im Diskurs über die nationalsozialistische Vergangenheit. In ihrer zweiten Vorlesung »Schuld und Abwehr – Wunsch oder Wirklichkeit?« nimmt Ilka Quindeau indes den Zweifel einer kritisch psychoanalytischen Lesart des Materials auf, ob von Schuldabwehr gesprochen werden kann. Denn Schuld und Abwehr setzen ein entsprechendes moralisches Bezugssystem der Akteur:innen voraus. Eine exemplarische Analyse der Affekt- und Konfliktstruktur, die sich in dem empirischen Material findet, soll Aufschluss über diese Frage geben.

Die dritte Vorlesung »Der Vorwurf des Antisemitismus« nimmt die documenta 15 zum Anlass, um die komplexe Dynamik des Antisemitismusvorwurfs in gegenwärtigen Debatten zu untersuchen. Was wird verhandelt, wenn man Andere des Antisemitismus bezichtigt? Was wird unsichtbar? Und wozu dient der Vorwurf? Ilka Quindeau rekonstruiert die Debatte kritisch anhand des Konzepts der Ambiguitätsintoleranz als psychischer Voraussetzung des Antisemitismus. Während der Antisemitismusvorwurf an dieser Intoleranz partizipieren kann, zielt die Kritik des Antisemitismus dagegen auf die Akzeptanz von Ambiguität.

Ort: Campus Bockenheim

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